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Nach Erdwärme-Bohrung Eine Stadt zerreißt

Vorbildlich ins Desaster: Mit Erdwärme wollte man das Rathaus im südbadischen Staufen heizen. Doch kurz nach den Bohrungen begann der Horror. Überall in der Stadt taten sich tiefe Risse auf. Keiner weiß, was noch kommt - und wer eigentlich Schuld an der Sache hat.

Staufen im Breisgau. Eine kleine beschauliche Stadt am Fuße des Schwarzwalds. 7800 Menschen leben hier, wo die Welt noch in Ordnung ist. Genauer gesagt: Wo die Welt noch in Ordnung war. Denn im Herbst vergangenen Jahres begann das Unheil über die Stadt zu kommen …

Es fing mit einer eigentlich löblichen Idee an. Man wollte das historische Rathaus mit klimafreundlicher Erdwärme beheizen. Eine österreichische Firma wurde engagiert, sieben Sonden wurden in den Grund unter dem Rathaus getrieben, 140 Meter tief.

Kurz danach zeigten sich erste Risse in dem historischen Gebäude. Noch war man nicht wirklich beunruhigt. Noch sprach Bürgermeister Michael Benitz von "kosmetischen Schäden". "Am Anfang waren es noch Bewegungen im Millimeter-Bereich", erzählt er. Doch dabei blieb es nicht: Aus Millimetern wurden Zentimeter und aus den kosmetischen Schäden eine Katastrophe. Dieses Wort jedenfalls benutzt Bürgermeister Benitz, wenn er über die unheimlichen Vorgänge in seiner Stadt spricht.

Die Risse im Rathaus begannen zu wachsen, auf andere Häuser überzugreifen, immer länger und immer tiefer zu werden. Wie ein Monster aus der Tiefe fressen sie sich durch die gesamte Stadt. Nach nur einem Jahr sind mehr als hundert Häuser von Rissen durchzogen. Und sie sind mitunter so tief, dass man schon hineingreifen kann.

Unter Staufen brodelt etwas. Die gesamte Stadt hat sich angehoben. Und das in Dimensionen, die für geologische Verhältnisse enorm sind. Es geht um mehrere Zentimeter pro Monat.

Was geht da vor sich?

Geologen wurden zu Rate gezogen. Sie sollten klären, ob - und wenn ja wie - die rätselhaften Risse durch die Bohrungen verursacht wurden. Wissenschaftler von der TU Darmstadt haben eine Theorie. Ingo Sass, Ingenieurgeologe an der TU Darmstadt und Experte für Geothermie-Bohrungen, vermutet im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE, dass folgendes passiert ist: "Man hat am Rathaus losgebohrt, durchstieß die Gips-Keuper-Schicht und stieß darunter auf den Grundwasserleiter, in dem Wasser unter hohem Druck steht."

Keuper ist ein Anhydrit, ein Kalziumsulfat. Kommt es mit Wasser in Kontakt, entsteht Gips. Und der dehnt sich aus. Als die Grundwasserschicht unter dem Keuper angebohrt wurde, schoss das Wasser wie bei einem Geysir durch die Bohrung hoch und kam mit dem Anhydrit in Kontakt. Dadurch kam die chemische Reaktion in Gang. Bis zu 60 Prozent kann das Gestein im Untergrund bei diesem Prozess an Volumen zunehmen.

Anwohner und Gastronomen sind verzweifelt. Letztere geben ihr Bestes, den unheimlichen Anblick vor den Touristen zu verbergen - was schwerfällt, denn vom Gastraum bis zur Toilette zieht sich die Zerstörung. Am schlimmsten steht es um das Rathaus. Statiker prüfen derzeit, wie sicher es überhaupt noch ist, das Gebäude zu betreten.

Aus dem Naturspektakel ist ein Justizspektakel geworden

Was tun? Eine Sanierung zum jetzigen Zeitpunkt erscheint sinnlos, denn es heißt, dass die Anhebung noch weitergehen wird. Um bis zu zwei Meter, so erzählt eine Anwohnerin. Da erscheint die Option Haus abzureißen, abwarten und neu aufbauen noch am sinnvollsten.

Sass bestätigt: "Das kann noch Jahre so weitergehen - je nachdem wie schnell sich das Wasser in der Keuper-Schicht bewegt." Er befürchtet gar, dass das Schlimmste noch bevorsteht: Die Gipsschicht könnte sich im Wasser teilweise wieder auflösen, Hohlräume würden unter der Stadt entstehen. "Ich kann nicht ausschließen, dass Gefahr im Verzug ist." Denn dann könnte es mitten im Stadtgebiet zu unerwarteten Einstürzen kommen. "Es muss dringend etwas getan werden", sagt Sass. "Der Wasserzutritt in den Gips-Keuper muss unterbunden werden." Aber das wird kosten.

Doch wer zahlt? Sind wirklich die Erdwärme-Bohrungen der Grund für die ganze Misere? Hat der Bauingenieur schlecht geplant, die Bohrfirma unsauber gearbeitet? Muss die Stadt - der Bauherr - für die Schäden haften? Aus dem Naturspektakel ist mittlerweile ein Justizspektakel geworden. Mehrere Bewohner und Gewerbetreibende haben die Stadt verklagt. Doch in einem Schreiben hat Bürgermeister Benitz jegliche Haftung abgelehnt, wie Rechtsanwalt Mirko Benesch, der die Klage gegen die Stadt führt, SPIEGEL ONLINE bestätigte. Die Eigentümer seien für ihre Schäden selbst verantwortlich, schrieb Benitz.

Solange die Schuldfrage nicht geklärt ist, zahlen die Versicherer nicht, gibt es keinen Schadensersatz. Ein Gutachten wurde bereits in Auftrag gegeben, um Klarheit zu bringen.

Geotechniker der Stuttgarter Materialprüfungsanstalt maßen Temperaturprofile in den Bohrlöchern und ermittelten die Vertikalbewegungen an 30 Messpunkten in der Innenstadt. Am Ende gab es dennoch keine Klarheit: Die Bohrungen könnten schuld an allem sein. Oder auch nicht, denn auch natürliche Ursachen sind denkbar.

"Staufen ist tektonisch aktives Gebiet"

"Staufen ist tektonisch aktives Gebiet", sagt Sass. "Natürlich ist es möglich, dass Schollen sich tektonisch aneinander bewegen, wodurch sich die Wasserwege geändert haben könnten und so die Quellreaktion in Gang kam." Nur: Sehr wahrscheinlich ist das seiner Meinung nach nicht.

Die zeitliche Übereinstimmung der Vorgänge mit den Bohrungen ist ein starkes Indiz, das gegen natürliche Ursachen spricht. Wieso ausgerechnet jetzt diese seltsame Anhebung, so kurz nach den Bohrungen? Viele Anwohner glauben nicht an theoretisch mögliche natürliche geologische Verschiebungen.

Das Risiko war jedenfalls vor der Bohrung bekannt. Vor Bohrbeginn muss eine Einzelfallprüfung stattgefunden haben, denn für die Genehmigung einer Geothermie-Bohrung machen Behörden strenge Auflagen. Im " Leitfaden für die Nutzung von Erdwärme mit Erdwärmesonden " des Landesamts für Geologie, Rohstoffe und Bergbau werden Gebiete nach Risikozonen klassifiziert. Dort heißt es auf Seite 15: Bei "Gebieten mit ungeklärten und räumlich eng wechselnden Untergrundverhältnissen - hierzu zählen die Randschollen zwischen Oberrheingraben und Schwarzwald mit unterschiedlichen Schichtfolgen und Gesteinen im Untergrund" seien Erdwärmesonden nur nach Einzelfallprüfung möglich. Zudem sei laut Sass anhand geologischer Karten vorher bekannt gewesen, dass eine Keuper-Schicht unter Staufen lag. Nicht die Erdwärme-Bohrung an sich sei das Problem, so Sass. Es sei einfach sehr riskant gewesen hier zu bohren.

So geht das Schauspiel in Staufen zunächst weiter. Die Schäden haben bereits jetzt schon einen zweistelligen Millionenbetrag verschlungen, die Gutachten immerhin einen fünfstelligen Betrag.

Wer schuld an all dem hat, ist noch nicht klar. Klar aber ist: Den Grund unter Staufen wieder sicher zu bekommen, wird teuer. Sehr teuer.